„Und dann war es auf einmal still"
Ansprache bei dem 72. Jahrestag der Befreiung der Häftlinge des KZ Sachsenhausen.
„Und dann war es auf einmal still. Eine Stille, so seltsam und absolut, wie ich sie, meinem Gefühl nach, später kaum mehr erlebt habe. Wir hörten die Vögel draußen singen. Manche brachen in ein schreckliches Geheule aus. Jemand wagte es, hinauszugehen. Es muss ein Niederländer gewesen sein, denn plötzlich erklang es von oben an der Treppe in niederländischer Sprache: „Kommt raus, wir sind frei, hurra, wir sind frei, kommt raus, die Russen sind da, wir sind frei.“
Das war am Montag, den 23. April 1945, heute vor genau zweiundsiebzig Jahren im KZ Sachsenhausen, und es spricht Henk Gortzak, ein kommunistischer Widerstandskämpfer aus meiner Stadt, aus Amsterdam. Denn in der Tat, ganz Europa war hier vertreten, in diesen Höllenkreisen. Gortzak beschreibt, wie die Überlebenden dieses letzte Wochenende in einer Art Niemandsland verbrachten. Die SS-Bewacher waren am Samstag verschwunden, die Krankenpfleger hatten sich ihrer Waffen bemächtigt und die Wache übernommen. Der Sonntag war ein wunderschöner Tag, überall kamen geflohene Zwangsarbeiter aus den Wäldern, aus den zurückgelassenen Vorräten wurde in großen Töpfen Reis und Erbsensuppe gekocht, viele Häftlinge lagen, soweit ihre Mägen das Essen vertrugen, zufrieden in der Sonne, und dann, ganz unvermittelt, begann der Krieg wieder. Die Schießereien waren schrecklich, sie dauerten die halbe Nacht, alle dachten, dies sei nun schließlich doch noch das Ende. Doch am Montagmorgen war es plötzlich still. Dieses Moments gedenken wir jetzt. Dieser Stille.
„Wer laufen konnte, eilte die Treppe hinauf“, berichtet Gortzak. „Draußen gingen fünf junge russische Soldaten in khakifarbenen Uniformen, die Maschinenpistole vor dem Bauch, den Finger am Abzug. ‚Faskiski banditov kaput!’, rief der eine, und ein anderer fragte in gebrochenem Deutsch, wer wir seien. Wir führten ihn in den Keller, wo die sterbenden Gefangenen lagen. Als er wieder ins Freie trat, kullerten Tränen über seine Wangen.“
Eine gute Stunde nach diesem Erkundungstrupp kam die reguläre russische Armee bereits ins Lager, mit einem Mal waren überall Ärzte und Sanitäter. Gortzak und zwei Amsterdamer Freunde beschlossen, das Lager bereits am selben Nachmittag zu verlassen. Sie zogen eine Weile umher, halfen ihren ehemaligen Mitgefangenen in Potsdam bei der Gründung einer neuen kommunistischen Partei – sie wurden als 67., 68. und 69. Mitglied aufgenommen – und gelangten erst Ende August wieder nach Amsterdam. Gortzaks Frau, Jans, war wütend. „Hast du eine Ahnung, wie oft ich in den ersten Monaten zum Bahnhof gegangen bin, um irgendetwas über die zu erfahren? Aber keiner konnte mir Auskunft geben. War dir diese Arbeit dort wirklich wichtiger als unsere Gemütsruhe? Geht die Partei denn über alles?“ Erst später, sehr viel später begriff Gortzak, was sie meinte.
Die Ex-Gefangenen füllten nach ihrer Befreiung diese Stille auf ihre je eigene Weise aus. Viele blieben politisch aktiv, nun motivierter als jemals zuvor. Der norwegische Häftling Einer Gerhardsen wurde nicht nur gleich nach dem Krieg zum Osloer Bürgermeister ernannt, er führte im selben Jahr auch die Übergangsregierung und diente danach siebzehn Jahre lang seinem Land als Ministerpräsident. Sein Landsmann Trygve Bratelli war wiederholt Minister und stand zweimal an der Spitze der Regierung. Antonín Zápotocký wurde Präsident der Tschecheslowakei – sein kritischer Lagergefährte Jakub Cermín landete hingegen 1952 wieder im Gefängnis. Der Pole Andrzej Szczypiorsky wurde Schriftsteller und schließlich Senator für Solidarnosc. Henk Gortzak saß als Abgeordneter der kommunistischen Partei der Niederlande im Parlament, bis er den rigiden Stalinismus der Parteileitung nicht länger ertragen konnte. In Osteuropa wäre er, wie viele seiner tapferen Schicksalsgenossen, wieder in ein Lager gekommen; vielleicht hätte man ihn sogar erschossen. In den Niederlanden wurde er „kaltgestellt“, politisch und sozial. Seinen Aufenthalt in Sachsenhausen verarbeitete er, soweit das möglich war, durch Schweigen.
Das waren die Häftlinge selbst. Und nun wir, Deutsche und Niederländer, alte und junge Generationen, wie haben wir diese Stille ausgefüllt? Wie sind wir mit unserer Verwirrung, unserer Wut und unseren Schuldgefühlen – ja, auch denen der Opfer – umgegangen, wie mit den historischen Lektionen, die Sachsenhausen und all die anderen Schreckensorte uns ins Gesicht geschleudert haben?
In den Anfangszeit behandelte man diese Fragen meist sehr einfach, die Antworten beschränkten sich nur allzu oft auf „gut“ und „schlecht“. Es hieß „die“ Deutschen und „die“ Italiener gegen „die“ Niederländer, Franzosen, Polen, Tschechen und all die anderen Europäer, und darüber hinaus musste man sich keine Gedanken machen. Henk Gortzak weigerte sich kategorisch, in dieses Lied mit einzustimmen, denn schließlich verdankte er sein Leben ausgerechnet einem deutschen Kameraden. Willy, ein Krankenpfleger aus dem Ruhrgebiet, hatte sich mit nie nachlassender Geduld um ihn gekümmert und war danach für immer in „Nacht und Nebel“ verschwunden. Die Solidarität, aufgrund der Gortzak und seine Mitgefangenen überlebten, umfasste ebenso gut deutsche Sozialdemokraten, Kommunisten, Christen, Zeugen Jehovas, Homosexuelle und alle anderen, die das Unglück an diesen Ort gebracht hatte. Doch das entging den meisten Außenstehenden. Sie nationalisierten die Stille, es hieß erneut „wir“ gegen „die anderen“.
Mein eigenes Land, die Niederlande, hegte zum Beispiel nur allzu gern den Mythos der Unschuld. Wir hatten alle Anne Frank auf dem Dachboden versteckt, aber dass sie anschließend von ganz normalen Amsterdamer Polizisten verhaftet und von anständigen niederländischen Eisenbahnbeamten in den Untergang transportiert wurde, davon wollten wir nichts wissen. Das deutsche Selbstbild hingegen wurde lange Zeit vom Gegenteil beherrscht: Schuld. Dadurch wurden bestimmte Teile der Geschichte verdrängt, zum Beispiel die schrecklichen Dinge, die Flüchtlinge und Bombenopfer erlebt hatten. Die Diskussionen waren emotional und heftig, als auch dieses Leid einen Platz im großen deutschen Narrativ einforderte – und bekam. Es war auf vielerlei Weise politisch belastet, gewiss, doch es war auch ein Teil fast jeder deutschen Familiengeschichte. Das kann man irgendwann nicht mehr ignorieren.
Dieselbe Neubewertung forderte der deutsche Widerstand. Deutschland hat einen Prozess der beinahe vorbildhaften Selbsterforschung hinter sich, doch was im niederländischen Selbstbild immer zentral gestanden hat, das Heldentum der Unangepassten, ist hier oft im Schatten geblieben. Dennoch gab es viele Hunderttausend Deutsche, die – sich durch nichts und niemand davon abhalten lassend – den unglaublichen Mut hatten zu sagen: „Ich nicht.“
Es waren viel zu wenige, aber trotzdem, es gab sie, überall. Unter den 70.000 Häftlingen, die sich Anfang Februar 1945 im KZ Sachsenhausen und seinen Außenlagern befanden, waren auch Tausende deutsche Gegner des Nationalsozialismus. In München habe ich mich einmal auf die Spuren der Münchener Post begeben, einer sozialdemokratischen Tageszeitung, die, so lange es ging, mit Entschiedenheit und Elan Widerstand gegen den aufkommenden Faschismus geleistet hatte. Die meisten Redakteure landeten daher auch sehr bald nach der Machtübernahme durch die Nazis in Dachau. Hitler hasste die Zeitung aus tiefstem Herzen. Ich besuchte den Ort, wo all diese tapferen Deutschen gearbeitet hatten, das Altheimer Eck. Dort wurde immer noch eine Zeitung gemacht, doch wie sich zeigte, wusste niemand mehr von der Existenz der Münchener Post. In Polen, Frankreich oder in den Niederlanden hätte es bestimmt eine Erinnerungstafel oder dergleichen gegeben. Hier gab es überhaupt nichts. Ich weiß, in den Schulen wurde und wird dieses Thema ziemlich intensiv besprochen, aber dennoch konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Widerstand irgendwie nicht in das Deutsche Narrativ zu passen scheint – wenn man einmal von einer Reihe individueller Heldentaten absieht.
Warum? Es kann daran gelegen haben, dass das Thema belastet war: Es gab in der Vergangenheit Gruppen, die, unter Ausschluss anderer, für sich in Anspruch nahmen, „der“ Widerstand, das einzig „gute“ Deutschland gewesen zu sein – vor allem die Kommunisten in der DDR verstanden sich darauf. Das Stigma des „Landesverrats“, das den Dissidenten noch lange anhaftete, kann auch eine Rolle bei dieser Marginalisierung gespielt haben. Und die Existenz dieses Widerstands blieb, so denke ich, auch deshalb so lange im Schatten, weil er zeigte, dass die Verantwortung für das „Mitmachen“ nicht nur auf die Nazis oder den Staat geschoben werden kann, sondern dass durchaus eine individuelle Entscheidung möglich war. Eine unglaublich schwierige Entscheidung mit enormen Konsequenzen, aber dennoch eine Entscheidung. Und, für spätere Generationen, eine exemplarische und inspirierende Entscheidung.
Henk Gortzak hat die Entscheidung, die er traf, schließlich in einer nüchternen und zugleich beeindruckenden Autobiographie beschrieben. Der tiefgreifendsten Erfahrung seines Lebens, Sachsenhausen, widmet er jedoch nur eine Handvoll Seiten. Schweigen blieb sein Motto, auch wenn er zugab, dass die Erinnerungen vor allem nachts mächtig auf ihn einstürmten – selbst vierzig Jahre später noch. „Könnte man dies nur aus dem Gedächtnis verbannen“, hörte er alte Lagerkameraden manchmal sagen, doch ob das gut wäre, daran hatte er so seine Zweifel. Denn die Fackel musste weitergegeben werden, und dazu gehörten auch diese Erfahrungen.
Henk Gortzak gehörte zu den, so will ich sie einmal nennen, „Vätern auf dem Dachboden“. Viele meiner nach dem Krieg geborenen Generation – und Sie werden das wiedererkennen – sind nur allzu oft mit nachts herumgeisternden Vätern und niedergeschlagenen Müttern aufgewachsen. Ob wir nun Polen, Deutsche, Spanier, Franzosen oder Niederländer sind, in all diesen Familien waren sie Nacht für Nacht wieder da, die Schlachtfelder, Bombardements und Konzentrationslager, ob sie nun Stalingrad, Warschau, Sachsenhausen, Hamburg oder Theresienstadt heißen. Diese Väter und Mütter auf dem Dachboden, sie verbinden uns Nachkriegseuropäer. Ihre schweigende Anwesenheit hatte, davon bin ich überzeugt, einen sehr großen Einfluss auf die europäische Politik und das europäische Projekt. Ohne ihre persönliche Geschichte hätten viele europäische Politiker und Diplomaten der Nachkriegszeit nicht den Mut und die Kraft gehabt, über den eigenen Schatten zu springen, wenn das notwendig war.
„Keine einzige Kultur ist an sich barbarisch, kein einziges Volk ist endgültig zivilisiert“, schrieb einst der bulgarisch-französische Historiker Tzvetan Todorov. „Sie können alle sowohl das eine wie das andere werden. Das ist das Charakteristikum der Menschheit.“
Ich muss plötzlich an einen lieben Freund denken, an Otto von der Gablentz, ein deutscher Diplomat, der jahrelang in den Niederlanden lebte und arbeitete. Er hat mir einmal erzählt, wie sein Vater ihm – er war damals vierzehn Jahre alt – bei einem Waldspaziergang eröffnete, dass er im Widerstand aktiv war. Otto Heinrich von der Gablentz war Mitglied des Kreisauer Kreises, doch während dieses Spaziergangs gestand er seinem Sohn auch, wie schwer ihm diese Entscheidung als loyaler Staatsbürger gefallen war. Aber dennoch akzeptierte er die Einsamkeit und die Gefahr: aufgrund seiner tiefen Überzeugung, dass uns, trotz aller Unterschiede, eine höhere Menschlichkeit verbindet. Dieses Gespräch hat das Leben seines Sohnes Otto für immer geprägt, es machte ihn zu einem prominenten Friedensstifter – denn das war er während seiner diplomatischen Laufbahn immer wieder. Solche Väter auf dem Dachboden gab es auch.
Diese Periode liegt nun fast hinter uns. Henk Gortzak lebt schon lange nicht mehr, und auch mein Freund Otto ist, ebenso wie die meisten seiner Generation, gestorben. Und jetzt verschwinden auch die Generationen, die nur indirekt Zeuge waren. Die Väter auf dem Dachboden verstummen. Das bedeutet, dass bestimmte Gebiete mit größerer Unbefangenheit erkundet werden können, dass sich verschlossene Türen endlich öffnen und dass Raum für neue Fragen und neue Forschungen entsteht. Zugleich aber besteht die Gefahr, dass mit dem Verstummen auch die Dringlichkeit aus der Debatte verschwindet – und zwar weniger aus der historischen, als vielmehr aus der politischen und der europäischen Debatte. Und das zu einer Zeit, in der gerade die Ideale und der Widerstand jener schon beinahe vergessenen Väter und Mütter aktueller denn je sind: Ein neu ins Amt gekommener amerikanischer Präsident, der in seiner Antrittsrede die Grundlagen für ein totalitäres System skizziert, der nur noch von „das Volk“ und von sich selbst als Führer spricht und der alles, was eine Demokratie zur Demokratie macht – eine unabhängige Rechtsprechung, eine freie Presse, eine ausgewogene Volksvertretung – beiseite schieben will und verhöhnt. Europäische Nationalisten und Populisten, die überall jubelnd seinem Beispiel folgen. Die alte Dolchstoßlegende vom „Verrat“ der Eliten, die hier und dort wieder auflodert. Die Angst vor dem Anderen, vor dem Fremden, die die öffentliche Diskussion erneut beherrscht. Ein Massenmedium wie Twitter, in dem der Hass fröhliche Urständ feiert.
Wiederholen sich die dreißiger Jahre? Nein, dafür sind die Unterschiede zu groß. Unsere Demokratien sind unendlich viel widerstandsfähiger als damals. Doch selbstverständlich ist all dies nicht. Erneut geht es um unsere Grundrechte, um unsere demokratischen Institutionen, um unsere Freiheit, um den Erhalt unserer menschlichen Werte und Würde. Erneut gibt es Anlass zu größter Wachsamkeit. Und vor allem die jungen Generationen werden den Begriff „Widerstand“ vollkommen neu erfinden müssen. Genau wie damals.
„Und dann war es auf einmal still.“ Henk Gortzak hat diese Stille auf seine Weise durchbrochen, er hat nicht geschwiegen. Dennoch empfand er am Ende seines Lebens nichts als Enttäuschung. Als er in einer Fernseh-Dokumentation mit den Gräueln des sogenannten „realeistierenden Sozialismus“ konfrontiert wurde, seufzte er, den Tränen nahe: „Ist also unser ganzes Leben umsonst gewesen?“ „Ja“, sagte Jans, „ich fürchte, so ist es.“
War dieses tapfere Leben, waren die Opfer, war das Leiden hier und anderswo wirklich umsonst? Ja, das war es, wenn man das ideologische Lärmen, das auf die Stille folgte, wenn man die Haarspaltereien, die Repressionen und die Unfreiheit betrachtet. Es war nicht umsonst, wenn wir an den aufrichtigen Idealismus denken, der auch hier viele Häftlinge antrieb, an ihren Mut, ihre Kameradschaft, ihre internationale Zusammengehörigkeit, an ihr stolzes: „Ich nicht.“
Darum sind wir hier zusammengekommen, an diesem Nachmittag. Um sie zu ehren und ihrer zu gedenken. Aber auch, weil wir ihren Mut und ihre Inspiration brauchen. Weil wir ihre Stimmen erneut hören wollen, weil wir uns ihre Kameradschaft zueigen machen wollen, weil uns bewusst ist, dass wir Seite an Seite stehen, die junge Generation an der Seite der beinahe vergessenen Väter und Mütter auf dem Dachboden, die Lebenden an der Seite der Toten. Denn wir brauchen einander dringend, erneut, in den Stürmen, die kommen.
Aus dem Niederländischen
von Gregor Seferens